Ziel und Hintergrund der neuen Leitlinien

Die Europäische Kommission hat neue Leitlinien zur klinischen Bewertung von Orphan-Medizinprodukten im Rahmen der Medizinprodukteverordnung (MDR) veröffentlicht. Die MDR hat die Anforderungen an klinische Nachweise deutlich verschärft, insbesondere für Hochrisikoprodukte, bei denen klinische Prüfungen vor dem Inverkehrbringen verpflichtend sind, um Sicherheit und Leistung nachzuweisen. Diese Anforderungen stellen jedoch eine besondere Herausforderung für sogenannte Orphan-Produkte dar, die für seltene Erkrankungen oder spezielle Indikationen bei kleinen Patientenkohorten entwickelt werden.

Herausforderungen bei der Bewertung von Orphan-Medizinprodukten

Orphan-Medizinprodukte werden jährlich nur in sehr begrenztem Umfang eingesetzt und richten sich an Patienten mit seltenen oder schwer behandelbaren Krankheiten. Sie sind entscheidend für die Deckung ungedeckter medizinischer Bedürfnisse. Der Mangel an spezifischen MDR-Leitlinien für diese Produkte führt jedoch zu uneinheitlichen Interpretationen klinischer Nachweisanforderungen durch Hersteller, Benannte Stellen und Behörden, was die Zertifizierungsprozesse erheblich erschwert.

Besondere Schwierigkeiten ergeben sich bei der Datengenerierung in kleinen oder vulnerablen Populationen – beispielsweise bei Kindern oder Notfallpatienten. Klinische Studien in diesen Gruppen sind ethisch und praktisch komplex und erschweren die rechtzeitige Bereitstellung von Daten. Hinzu kommen hohe finanzielle Belastungen für Hersteller, da der geringe Absatz solcher Produkte die MDR-Konformitätskosten oft nicht deckt.

Darüber hinaus entwickeln viele Hersteller Produkte mit orphanen und nicht-orphanen Indikationen, die in verschiedenen Patientengruppen verwendet werden. Für die orphane Indikation ausreichende klinische Nachweise zu erbringen, ist ebenso anspruchsvoll wie bei exklusiven Orphan-Produkten. Die neuen Leitlinien sollen hier Unterstützung bieten, ohne die Anforderungen für nicht-orphane Anwendungen zu lockern.

Proportionale Anwendung der MDR-Anforderungen

Angesichts der besonderen Herausforderungen und des Fehlens spezifischer Vorschriften empfiehlt die Kommission ein proportionales, risikobasiertes Vorgehen bei der Anwendung der MDR-Anforderungen. Dieses Prinzip steht im Einklang mit Artikel 35 der EU-Grundrechtecharta und soll sicherstellen, dass der Zugang zu wichtigen Orphan-Medizinprodukten nicht durch übermäßige regulatorische Hürden blockiert wird.

Die Leitlinien erkennen an, dass unter bestimmten Umständen die Zulassung eines Orphan-Produkts mit begrenzten präklinischen oder klinischen Daten gerechtfertigt sein kann. In solchen Fällen ist Transparenz entscheidend: Fachpersonal, Patienten und Öffentlichkeit müssen über Datenlücken und entsprechende Zulassungsbedingungen informiert werden.

Entwicklung der Leitlinien

Im August 2022 erkannte die Medical Device Coordination Group (MDCG) die Notwendigkeit spezieller Vorgaben für Orphan-Medizinprodukte an und richtete eine Taskforce für Orphan Devices ein. Diese arbeitete gemeinsam mit Benannten Stellen, Industrievertretern, wissenschaftlichen Gesellschaften und Fachpersonal an einem umfassenden Leitliniendokument. Es definiert sowohl die Kriterien für die Einstufung eines Produkts als Orphan-Medizinprodukt als auch die methodischen Ansätze zur Bewertung klinischer Nachweise.

Struktur und zentrale Inhalte der Leitlinien

Teil A – Klinische Bewertung

  • Zulässigkeit eingeschränkter klinischer Daten vor dem Inverkehrbringen von Orphan-Medizinprodukten,
  • Bewertungskriterien für neue und bestehende Orphan-Medizinprodukte,
  • Erhebung zusätzlicher klinischer Daten nach dem Inverkehrbringen, einschließlich PMS- und PMCF-Aktivitäten.

Teil B – Verfahrensfragen

  • Hinweise für Benannte Stellen zur Bewertung von Orphan-Medizinprodukten,
  • Rolle der Expertengremien (Expert Panels) im Bewertungsprozess,
  • Drei Anhänge mit ergänzenden Leitlinien zu:
    • spezifischen Aspekten in klinischen Bewertungsberichten,
    • Überlegungen zur Durchführung klinischer Studien,
    • Methoden zur Extrapolation klinischer Daten auf orphanen Indikationen.

Zielsetzung der Leitlinien

Die neuen Leitlinien sollen die klinische Bewertung und regulatorischen Prozesse für Orphan-Medizinprodukte vereinfachen und harmonisieren. Durch ein ausgewogenes MDR-konformes Vorgehen wird sichergestellt, dass diese essenziellen Produkte Patienten schneller zur Verfügung stehen, ohne Kompromisse bei Sicherheit und Wirksamkeit einzugehen. Das gemeinsame Engagement der beteiligten Akteure unterstreicht das Ziel, die Versorgung und Lebensqualität von Patienten mit seltenen Krankheiten nachhaltig zu verbessern.