Was sind Gebrauchstauglichkeitsprüfungen (Usability) bei Medizinprodukten?

Gebrauchstauglichkeitsprüfungen (engl. usability testing) sind ein systematischer Prozess zur Prüfung von Medizinprodukten und IVD im Hinblick auf Sicherheit, intuitive Handhabung und korrekte Bedienung durch Endanwender unter realitätsnahen Bedingungen. Gemäß MDR 2017/745 und IVDR 2017/746 sind solche Prüfungen erforderlich, wenn Fehlbedienungen zu klinischen Fehlern führen können. Der Prozess stützt sich auf die Norm IEC 62366-1 und ist mit dem systemischen Risikomanagement nach ISO 14971 verzahnt.
Man unterscheidet:

  • formatives Usability-Testing – in der Entwicklungsphase,
  • summatives Usability-Testing – finale Validierung des fertigen Produkts,
  • vergleichende Prüfungen – z. B. bei Überarbeitung von Legacy-Geräten.

Usability Engineering im Produktdesign

Usability Engineering bedeutet, Produkte nutzerfreundlich, sicher und intuitiv zu gestalten. Der Hersteller muss die Interaktion zwischen Anwender und Produkt so auslegen, dass Anwendungsfehler minimiert werden. Dieser Prozess wird im Qualitätsmanagementsystem gemäß ISO 13485 dokumentiert und in der Technischen Dokumentation dargestellt.
Zentrale Elemente:

  • Identifikation der Nutzergruppen und ihrer Bedürfnisse,
  • Gestaltung der Benutzeroberfläche und der Anleitungen,
  • Identifikation und Analyse von Anwendungsfehlern (Use Errors),
  • Durchführung formativer und summativer Tests.

Nutzer- und Nutzungskontextanalyse

Der Hersteller definiert typische Nutzer (z. B. Ärzt:innen, MTAs, Patient:innen) und das Nutzungsumfeld (z. B. Krankenhaus, Zuhause, Labor). Die Analyse umfasst physische, kognitive und organisatorische Einschränkungen sowie umweltbedingte Faktoren, die die Bedienung beeinflussen.
Die Ergebnisse sind Grundlage für IFU/Bedienungsanleitungen und Trainingsmaterialien, abgestimmt auf die Nutzerkompetenzen.

Gestaltung von Benutzeroberfläche und Gebrauchsanweisung

Die Benutzeroberfläche (UI) umfasst alle physischen, digitalen und dokumentarischen Kommunikationskanäle mit dem Produkt. Sie muss eindeutig, ergonomisch und funktionsgerecht sein.
Die Gebrauchsanweisung (IFU) ist Teil der Technischen Dokumentation und enthält:

  • Funktionsbeschreibung,
  • Arbeitsabläufe/Schritte für Anwender,
  • Warnhinweise und Kontraindikationen,
  • Grafiken, Piktogramme, technische Daten, Serviceinformationen.

Usability-Tests und Produktweiterentwicklung

Usability-Tests werden mit repräsentativen Nutzergruppen unter simulierten oder realen Bedingungen durchgeführt. Ziel ist die Identifikation von:

  • Bedienhürden,
  • Anwendungsfehlern,
  • nicht intuitiven UI-Elementen.

Auf Basis der Ergebnisse können Design oder Dokumentation angepasst werden. Summative Tests sind für Produkte der Klassen IIb/III sowie für die meisten innovativen Produkte erforderlich.

Risikobewertung im Kontext Gebrauchstauglichkeit

Usability-Risiken sind eine besondere Kategorie klinischer Risiken. Nach ISO 14971 müssen Fehler aufgrund von:

  • Fehlinterpretation von Signalen,
  • zu komplexer Bedienung,
  • unverständlichen Anleitungen,
  • Nichtübereinstimmung mit Nutzererwartungen

identifiziert werden. Sie sind durch technische oder Schulungsmaßnahmen zu beherrschen; die Wirksamkeit wird im Rahmen der Post-Market-Überwachung (PMS) nachverfolgt.

Usability von Software als Medizinprodukt (SaMD)

Bei SaMD bezieht sich Usability auf:

  • Übersichtlichkeit der grafischen UI,
  • Verständlichkeit von Systemmeldungen,
  • Reduktion der Fehlinterpretation von Daten,
  • Zuverlässigkeit in unterschiedlichen IT-Umgebungen und Stresssituationen.

SaMD benötigt ein nutzerorientiertes Hilfesystem sowie getestete Schulungs-/Anleitungsunterlagen.

Stabilität aktiver Medizinprodukte

Die Stabilitätsbewertung betrachtet die Funktionsbeständigkeit bei Langzeitnutzung und Umwelteinflüssen, u. a.:

  • Resistenz gegen Temperatur, Feuchte, Vibration, Stöße,
  • Verhalten bei Spannungsunterbrechung,
  • Beständigkeit mechanischer und elektronischer Komponenten.

Stabilitätsnachweise sind Bestandteil der Technischen Dokumentation und der Konformitätsbewertung durch die Benannte Stelle.

Modernisierung MDD-konformer Geräte (Legacy Devices)

Legacy-Geräte benötigen ein Update der Usability-Dokumentation, z. B.:

  • Neugestaltung der UI,
  • Aktualisierung der IFU,
  • summative Tests gemäß MDR,
  • Zuordnung neuer/angepasster Risiken aus funktionalen Änderungen.

So kann der Marktzugang im Übergangszeitraum bis 2028 erhalten bleiben, sofern die Anforderungen nach Art. 120 MDR erfüllt sind.

MDR-Anforderungen an die Gebrauchstauglichkeit

Nach Anhang I der MDR 2017/745 müssen Produkte so gestaltet sein, dass sie:

  • Anwendungsfehler eliminieren oder minimieren,
  • eine verständliche Bedienung ermöglichen,
  • eine zweckbestimmungskonforme Nutzung durch Anwender sicherstellen.

Der Hersteller führt eine summative Bewertung (Endtests) durch; die Ergebnisse fließen in den Usability-Bericht ein, der für die Konformitätsbewertung erforderlich ist.

Wie unterstützt Pure Clinical bei Usability-Studien?

Pure Clinical bietet umfassende Unterstützung für Hersteller von Medizinprodukten und IVD:

  • Erstellung von Usability-Engineering-Plänen und Nutzeranalysen,
  • Identifikation/Klassifikation von Anwendungsfehlern,
  • Organisation formativer und summativer Studien,
  • Erstellung von Berichten gemäß IEC 62366-1 und ISO 14971.

Wir unterstützen SaMD-Projekte, Produkte der Klassen IIb/III sowie die Aktualisierung von Legacy-Geräten gemäß MDR.

FAQ

Müssen Usability-Tests wiederholt werden, wenn der Hersteller nur Verpackung oder Grafik ändert?

Ja – jede Änderung, die Wahrnehmung, Interaktion oder Nutzung beeinflusst (einschließlich Etiketten, Farben, Piktogrammen, grafischen Anleitungen), kann eine erneute Bewertung erfordern. Benannte Stellen erwarten eine Begründung, dass die Änderung kein neues Usability-Risiko einführt – auch wenn das Gerät technisch unverändert bleibt.

Können Usability-Prüfungen remote mit digitalen Simulationen oder VR durchgeführt werden?

Ja – Remote-Usability-Tests mit Simulationsumgebungen, interaktiven Prototypen oder Virtual Reality werden zunehmend akzeptiert, insbesondere bei SaMD und Benutzeroberflächen. Voraussetzung sind realistische Nutzungsszenarien und eine dokumentierte Validierung der Testumgebung.

Können Benannte Stellen die Konformität aufgrund der Usability-Ergebnisse anzweifeln?

Ja – zeigen summative Tests wesentliche Anwendungsfehler mit klinischem Risiko, kann die Benannte Stelle vor der Marktfreigabe Design-, IFU- oder Trainingsanpassungen verlangen. Unzureichendes Usability Engineering kann als Nichtkonformität mit der MDR gewertet werden.